4. Adventsonntag – Lesejahr A

 

Der Prophet Jesaja liefert ein adventliches Stichwort: »Ein neuer Trieb schießt hervor aus den Wurzeln.« Wir müssen bei den Wurzeln anfangen, wenn wir uns ändern wollen, wenn sich unsere Welt verändern soll. Wurzel heißt auf Lateinisch: radix. Wenn wir wirklich bei den Wurzeln anfangen, dann sagen die Leute, wir seien radikal. Und sie meinen damit gründlich, extrem und rücksichtslos, so wie es im Wörterbuch erklärend steht. In der Sprache Gottes bedeutet »radikal« etwas ganz anderes.

 

Psychotherapeuten sagen – und der Erfolg gibt ihnen recht –, der seelisch kranke Mensch sei nur zu heilen, wenn man zu seinen Wurzeln zurückgehe und dort anfange, die Wunden zu schließen. Das ist ein schwieriger und langwieriger Prozess. Versucht einmal, an die Wurzeln eines Weinstocks heranzukommen. Da muss man lange graben.

 

Wer an die Wurzel geht, muss Versäumtes nachholen. Dabei ist es sinnlos, der Mutter, dem Vater, den Eltern Vorwürfe zu machen. Wie es auch wenig Sinn ergibt, den Vätern und Müttern unseres Glaubens Vorwürfe zu machen. Sie haben selbst unter ihren Wunden gelitten; sie wussten es nicht besser. Meist haben sie es gut gemeint.

 

Man müsse, sagen die Therapeuten, alle versäumten Umarmungen nachholen, alle notwendige Zärtlichkeit. Man müsse also Menschen finden, die einen ganz festhalten, ihre Wärme verschenken, uns die Liebe spielen und kosten lassen. Nur so könne der unheile Mensch geheilt werden.

 

Schon deswegen müssen wir auch die Zärtlichkeit Gottes nachholen, die uns in der Verkündigung vorenthalten wurde. Denn der Glaube muss von der Wurzel her geheilt werden, damit diese zarte Pflanze wachsen und gedeihen kann. Deshalb muss als Erstes alle Angst geheilt werden, die mit der Allmacht und der Heiligkeit Gottes verbunden wird. Alle unheilige Gewalt, die uns in unseren Kindertagen verletzt und verwundet hat, muss geheilt werden.

 

Wir müssen alle Gewalt und Angst loslassen, indem wir von der Befreiung erzählen, die uns der Heiland, der Spross aus der Wurzel Jesse, gebracht hat. Wir müssen Protestlieder singen gegen die frommen Machthaber und religiösen Unterdrücker, wir müssen die Symbole wiederentdecken, die unsere tiefsten Sehnsüchte widerspiegeln und uns aufrichten.

 

Der Mensch wird nur durch Zärtlichkeit geheilt. Die Welt wird nur durch Zärtlichkeit geheilt. Nicht durch Angst, Schrecken oder Gewalt. Das Äußerste wird nur durch das Innerste geheilt.

 

 

 

Was ist Zärtlichkeit? Zärtlichkeit ist wie eine leichte Feder, eine kleine Blume, ein feiner Hauch, ein kleines Kind. Jedes Mal sagt Zärtlichkeit: Ich will dich bergen und streicheln, umschließen und hüten, bewahren und heilen, trösten und herzen. Weil wir alle verletzlich sind wie eine Feder, wie eine Blume, wie ein Hauch, wie ein kleines Kind, weil wir so hilflos sind wie ein verletztes Tier, benötigen wir Zärtlichkeit. Ein zärtlicher Mensch ist ein Glücksfall.

 

Jesus ist für uns der Glücksfall. Was wir erdenschweren Menschen auf Dauer nicht vermögen, leicht und gelassen zu sein, uns in der Schwebe zu halten, lebt er uns vor. Er hält für uns Gott und Mensch in der Schwebe. Jesus, ein Glücksfall von Gottes Zärtlichkeit. Seine Zärtlichkeit geht bis ans Äußerste; sie gibt sich ganz auf, ohne sich etwas zu vergeben. Wo wir mit unserem Leib bis zum Äußersten gehen, da ist Gott. Wo wir mit unserer Zärtlichkeit bis zum Äußersten gehen, da ist Gott. Und wo Gott bis zum Äußersten geht, da ist Leibhaftigkeit. Das ist Brot und Wein. Wo Gott bis zum Äußersten geht, da ist der Mensch.

 

Seit der Menschwerdung Gottes liegen Zärtlichkeit und Armut ganz nahe beieinander. Diese Verbindung hat einen Namen, einen zärtlichen Klang, der unser Herz vorsichtig anrührt wie ein feines Instrument. Jeschuah, Jesus: Gott heilt. Gott rettet.

 

Der Mensch ist bis in seine Wurzeln hinein bedürftig. Er braucht Zärtlichkeit. Gott ist genauso bedürftig, wenn er sich menschlich macht. Er braucht Zärtlichkeit. Damals in Betlehem wurde Gott und den Menschen die Zärtlichkeit verweigert. Das ist noch heute so: Gewalt statt Versöhnung. Raketen statt Zuwendung. Unmenschlichkeit statt Heilung. Das »Haus des Brotes« wurde zum Haus der Steine.

 

Wundern wir uns nicht: Wenn Menschen Zärtlichkeit verweigert wird, sind wir in der Gefahr, dass Gott sich uns verweigert. Wenn Gott Zärtlichkeit verweigert wird, werden Menschen unmenschlich. Gott bleibt Gott. Aber er bleibt in der Ferne. Und nur die Nähe ist zärtlich. Ist Gott nicht überall? Gibt es einen Ort, an dem Gott nicht ist? Ja, es gibt diesen Ort: Wo die Zärtlichkeit keinen Platz hat, dort hat Gott keinen Platz. Wo die Unmenschlichkeit ihre Festungen baut und Gräben aufschüttet, hat Gott keinen Platz. Wo die Gerechtigkeit vergewaltigt wird, ist Gott fehl am Platz.

 

Heute noch gibt es die Möglichkeit, Gott einen Platz zu bereiten, damit wir mit offenen Herzen Weihnachten feiern können.

 

Amen.